Kommentar: “Gegen die Lagerbildung! Der Fall ‘El-Hassan'”

Die Diskussion rund um die WDR-Personalentscheidung führt nicht weiter, wenn politische Lager sie als Bestätigung ihres Weltbildes sehen.

04.10.2021

In Absprache mit uns ist eine stark gekürzte Version am 04.10.2021 in der TAZ erschienen: https://bit.ly/3l5wGsz 

Da sind sie wieder, die Reflexe. Die Journalistin Nemi El-Hassan sollte Moderatorin des renommierten WDR-Wissenschaftsmagazins „Quarks“ werden. Als Recherchen zeigten, dass sie 2014 am berüchtigten, antisemitischen Al-Quds Marsch teilnahm, legte der WDR die Personalentscheidung auf Eis und kündigte an, den Fall in Ruhe zu prüfen. Frau El-Hassan distanzierte sich von Antisemitismus, Hass und Islamismus. Sie betont inzwischen, ein anderer Mensch zu sein. So weit so gut. Menschen können sich ändern und haben zweite Chancen verdient. Wie weitere Recherchen zeigten, likte und teilte El-Hassan jedoch noch bis September 2021 problematische Postings.

Kaum wurden die Vorwürfe veröffentlicht, gingen die Reflexe los und politische Akteure begannen, die Situation durch eine ihnen genehm getönte Brille zu betrachten: Je weiter rechts die Akteure stehen, desto klarer scheint ihnen der Fall El-Hassan. Die Nichtintegrierbarkeit von Muslimen scheint ihnen bewiesen und so manch anderer Unsinn wird verkündet. Zwischentöne und Widersprüche existieren nicht. Die Welt wird in Gut und Böse geteilt. Darüber hinaus feiern die Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks die Causa als „Systemversagen“ und verkünden eine Islamisierung der deutschen Gesellschaft, die freilich nur in ihrer Einbildung existiert.
Ein insgesamt gefährliches Narrativ, das primär der extremen Rechten dient.

Aber auch die reflexhafte Reaktion ihrer Verteidiger folgte auf den Fuß. In einem offenen Brief sehen sich Hunderte dazu veranlasst, den Diskurs vom eigentlichen Thema weg zu verlagern: Plötzlich steht nicht mehr die Personalpolitik des ZDF, des WDR oder El-Hassans Teilnahme an einer antisemitischen Demonstration und ihre israelfeindlichen Äußerungen im Fokus der Debatte, sondern dass die Kritik daran als rassistisch gelabelt wird. So werden drei Dinge erschwert.

Erstens der Blick darauf, was nötig für eine „zweite Chance“ wäre, zweitens wird die produktive Diskussion über (israel-)bezogenen Antisemitismus in der (post-)migrantischen Gesellschaft dadurch unmöglich. Und drittens soll die Überprüfung, ob die Distanzierung und Abwendung von Frau El-Hassan tatsächlich glaubwürdig ist, dadurch vorweggenommen werden.

Dass rassistische Akteure die Diskussion um Frau El-Hassan für ihre Zwecke missbrauchen, verurteilen wir auf das Schärfste. Aber der Unterstützungsbrief ist weit mehr als eine antirassistische Solidaritätskampagne. Dies wird deutlich, wenn man nicht wenige Unterzeichner des Briefes näher betrachtet: So finden sich dort offene BDS-Unterstützer, bekennende Antizionisten und Türöffner des Politischen Islam. Ihnen geht es um etwas anderes: Gerechtfertigte Kritik an antisemitischen Manifestationen zurückzuweisen und antiisraelische Agitation zu normalisieren.

Kritik von jüdischen Institutionen, auch vom Zentralrat der Juden, wird als „rechte Kampagne“ diskreditiert und aus dem (zulässigen) Diskurs gedrängt. Anstatt inhaltlich über die möglichen antisemitischen Haltungen Frau El-Hassans zu diskutieren, wird der Diskurs auf die Metaebene der Deutungshoheit über Antisemitismus gehoben.

Es ist legitim, kein Fan der israelischen Politik zu sein. Und auch wir aus der jüdischen Community müssen anerkennen, dass in diesem Fall eine Frau mit palästinensischen Wurzeln Erfahrungen und Narrative in sich trägt, die nicht die unseren sind. Aber es gibt Grenzen. Diese beginnen spätestens (!) dort, wo dem jüdischen Staat sein Existenzrecht oder seine Sicherheit abgesprochen werden.

Frau El-Hassan hat sich in einem antisemitischen und islamistischen Umfeld bewegt und engagiert. Davon hat sie sich distanziert. Das ist löblich und wird an ihrem Handeln zu messen sein. Dazu gehört aber auch, sich von keinem Lager vereinnahmen zu lassen. Und für die diversen Diskutanten gilt: Erst, wenn wir Situationen in der Sache diskutieren und sie nicht reflexartig als Beleg unseres eigenen politischen Weltbildes verstehen, haben wir eine Chance als Gesellschaft einen Schritt weiterzukommen.

Elio Adler